Vor drei Jahren bin ich im Piemont auf einen tiefen und für viele fast unheimlichen Wald gestossen, in dem ich mich seither oft aufhalte.

Nachts im Walde ist es mitnichten still, einsam und ruhig. Man muss nur einmal die Zeit und den Mut finden, allein im Wald zu übernachten, sei es auf dem Waldboden, auf einem Baum oder ganz einfach, in der Nacht im Wald spazieren zu gehen.

Zugegeben, niemand wartet nachts im Wald auf ein Trampeltier, und das Beobachten gestaltet sich schwierig. Warum? Weil wir in der Nacht nicht sehen können. Also müssen wir ruhig bleiben, damit wir nicht oder zumindest nicht so schnell gesehen werden. Abgesehen davon wird es für die meisten von uns eine Mutprobe sein, zu der wir uns erst trauen müssen.

Wir sollten uns Zeit nehmen – lauschen und die Geräusche filtern, von denen es viele gibt, um dann die einzelnen Ereignisse zu identifizieren, ohne dass uns der Atem stockt. Das Säuseln des Windes im Nacken lässt einen frösteln. Wir wissen nicht, wer uns berührt oder wer uns am Nacken packt.

Fast könnte man meinen, es sei wie das ungläubige Stammeln der kleinen Fürstin mit den schwarzen Härchen auf der Oberlippe, die bei der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes mit Fürst Andrei in Leo Tolstois Roman «Krieg und Frieden» ihre letzten Worte stammelte, bevor sie starb: «Ich habe niemandem Böses getan, warum leide ich? Warum tut ihr mir das an?»

Und gleichzeitig kreischt in der Nähe ein Marder, ein Kauz fühlt sich von irgendetwas genervt oder ein Vogel, der seine Ruhe haben möchte, wird von einem übermütigen Siebenschläfer auf seiner Marronijagd schier überrannt.

Ein Rehbock, der sich gerade brüsten will. Das Reh, das von einem Wolf, der gegen jede Vernunft von unseren «Guten» eingepflanzt wurde, bei lebendigem Leib von hinten angefressen wurde. Wir wollten ja den Wolf, das heisst nicht wir, sondern unsere «Guten» aus den geschützten Stadtwohnungen. Ich würde gerne einen von ihnen zu mir einladen und aus der Ferne beobachten, wie er nachts im tiefen Wald einen Baum umarmt. Irgendwoher stammt doch der Ausdruck «Hasenfuss».

Wir gehen noch tiefer in den Wald hinein, die von mir beschriebenen Geräusche kennen wir nun. Der Marder verstummt wieder, er ist auf Beutefang, der Kauz ebenfalls, er ist noch hungrig und sucht sich ein Mäuschen. Der Singvogel, in diesem Fall war es eine Drossel, die schon bei hellichtem Tag nicht zu überhören ist, hat sich wieder beruhigt. Sie will sich morgens nicht übernächtigt und schlecht gelaunt der Blösse preisgeben und von Nachbars Gesang geweckt werden.

Und das angefressene Reh? Seine Lebensuhr tickt plötzlich nicht mehr weiter. Ich habe bereits drei gefunden und ihnen in die nächste Welt geholfen. Glauben Sie mir, die mich kennen, wissen, dass ich nicht so sentimental bin, aber die Schreie lassen einem das Blut sprichwörtlich in den Adern gefrieren.

Aber das Reh schaut mit seinen schwarzen, zitternden Augen, die schon ihr Funkeln verloren haben, fragend: «Warum tut ihr Menschenbilder mir das an? Was habe ich euch getan?» Das Reh schaut hindurch und bewegt sich nicht mehr, so tief sitzen der Schock und der Schmerz, dass ihm der hinzugelaufene Mensch nicht mehr gefährlich erscheint. Ich erlöse es und es fällt völlig entspannt und endlich erlöst von seinen Qualen in sich zusammen. Der Wildhüter kann aufräumen, wenn es so weit kommt. Ein Wildtier oder auch ein Haustier ist nach so einem Angriff und Schmerz auch keine Delikatesse mehr, und der, der wie ich so ein armes Geschöpf findet und erlöst, ist für die nächsten Tage gerne Vegetarier.

Also gehen wir noch tiefer in den Wald hinein. Die eben geschilderten Erlebnisse – ja, auch das ist ein Teil davon, insbesondere das Erlebnis mit dem Reh, das uns unsere «Guten» mit der Wiederansiedelung des Wolfes eingebrockt haben – sie müssen die Schreie ja nicht hören. Das ist dasselbe, was gerade auf dem Kriegsschauplatz passiert. Kriegstreiberei und Kriege anheizen heisst, nicht selber dabei zu sein. Ansonsten hätten wir schnell fertig damit…